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Flaming Creatures – nachträgliche Gedanken zur Ausstellung

von Emmanuel Mir (Düsseldorf)

 

Wenn wir heute auf eine eben abgeschlossene Ausstellung zurückblicken, ist es nicht, um deren einzelne Künstler zu besprechen und um auf eine Bewertung ex post zu kommen, sondern um manche bleibende Eindrücke zu vertiefen. Dabei – wie immer – schreiben wir aus der einzigen Perspektive, die uns legitim erscheint: unserer. Wir schreiben aus der Perisphere. Die Perisphere ist ein schlecht kartografiertes Gebiet am Rande der zentralen Zone, ein terrain vague, eine noch nicht kolonisierte Insel. Die Perisphere ist ein gehacktes Territorium, die Rückseite der bekannten Welt, der Backroom jenseits der offiziellen Bühne, der Traum, manchmal auch der Alptraum, des Zentrums. Die Perisphere ist ex-zentrisch. In der Perisphere agieren Parias, Widerstandskämpfer, Krüppel, Schattengestalten, Neurotiker, Rebellen, Dienstuntaugliche, Idioten und Fundamentalisten. Sie verteidigen ihre Nische und bereichern die Oberfläche mit unorthodoxen, masseninkompatiblen Strategien, die keinerlei Rücksicht auf etablierte Regeln oder externe Erwartungen nehmen.  Und wenn wir heute auf eine eben abgeschlossene Ausstellung zurückblicken, ist es weil diese auf Akteure der Perisphere eingegangen ist.

Ansicht der Ausstellung im 2. OG.; Foto: Achim Kukulies

Flaming Creatures war eine der besten Ausstellung in Düsseldorf und Umgebung für 2012-2013. Weil sie trotz allem Mut und aller Radikalität ihre vermittelnde Rolle nicht vernachlässigt hat. Weil sie Künstler und Werke intelligent in Beziehungen gebracht und ein kulturelles Phänomen – Camp – für ein breites Publikum zugänglich gemacht hat. Zur Erinnerung, oder Klärung: Camp ist, so der kanonische Text von Susan Sontag aus dem Jahr 1964, „die richtige Mischung von Übertreibung, Phantastik, Leidenschaftlichkeit und Naivität“, ein „Geist der Extravaganz“, eine „Liebe zum Unnatürlichen, zum Trick und zur Übertreibung“ (Sontag: „Anmerkungen zu ‚Camp‘“, 1966). Camp ist die ungehemmte Maskerade mit Hang zur theatralischen Selbstinszenierung. Camp ist die selbstbezogene Ekstase (also: bar von Transzendenz, bar von Mystik). Camp ist die unfreiwillige Verwechslung von Intensität und Überschwang (deshalb besteht eine unleugbare Verwandtschaft zwischen den Kategorien Camp und Kitsch, wobei der Kitsch, dessen Entstehung an Bedingungen der Massenproduktion und -verbreitung anknüpft, nichts vom Unikatcharakter vom Camp besitzt). Camp ist die höchst individualisierte, eigenwillige, manchmal auch unbeholfene Aneignung von Hochkultur – eine maßgeschneiderte Kulturproduktion, die in ihren konsequentesten Formen zu einer ganzheitlichen Ästhetisierung des Lebens führt.

Bruce Nauman: Pulling Mouth (1969). Foto: Achim Kukulies

Trotz der expliziten Bezugnahme zum Text von Susan Sontag und der (zumindest in der Intention) deutlichen Anknüpfung an die Camp-Idee, war Flaming Creatures keine Camp-Ausstellung. Bis auf Jack Smith, der Outlaw des US-amerikanischen Films, dessen wegweisender Flaming Creatures (1963) zum programmatischen Namengeber der gesamten Show auserkoren wurde,  war die Liste der eingeladenen Künstler eher von Prominenzen und anerkannten Größen gekennzeichnet als von obskuren Randerscheinungen. Lustvoll wurde das Abartige, Unkonventionelle, Fremde, Abstoßende, Schokierende oder Grenzwertige zitiert – aber es blieb eben bei einem Zitat, und die Hierarchie des Kunstsystems wurde im Großen und Ganzen respektiert. Das von Sontag hochgehaltene Kriterium der Naivität stellte man weder bei Mike Kelley fest, dessen Kurzfilm voller kulturkritischer Anspielungen und kryptischer Symbole gespickt war, noch bei den präzise beobachteten hysterical homemovies von Ryan Trecartin oder den im Kunstkontext fest verankerten Selbstversuchen Paul McCarthys.

Mike Kelley: Vice Anglais (2011); Foto: Achim Kukulies

Camp wurde also hier großgeschrieben, kam aber letztendlich nur noch als Referenz zum Zug. Angesichts der Qualität und des Seltenheitswerts der präsentierten Werke war diese Tatsache wenig störend. Dass eine Institution sich überhaupt an eine solche Thematik getraut hat, ist durchaus lobenswert. Schließlich kann man  Flaming Creatures als ein Geschenk auffassen. Und zwar nicht, weil die Ausstellung kostenlos war, die einzelnen Arbeiten teilweise hochwertig waren und adäquat präsentiert, bzw. inszeniert, auch nicht weil man eine unglaubliche Chance zu einem Wiedersehen mit den (restaurierten) Filmen von Jack Smith und zu einer intensiven Beschäftigung mit John Bocks Universum erhielt, sondern in erster Linie weil das Düsseldorfer Publikum, eher an konventionelle Museumsausstellungen gewöhnt, in eine Welt eintreten durfte, die fremd, bizarr und unheimlich anmutete. Ja, das ist in der Tat ein Geschenk.

Ryan Trecartin: Trill-ogy Comp (2009); Foto: Achim Kukulies

Diese Welt ist die Welt der Andersartigkeit, der Irregularität und Non-Konformität. Es ist die Welt der Hyperindividualität und der konsequentesten Expressivität, eine Welt in der jeden Mensch zum Gesamtkunstwerk erklärt wird. Es ist eine Welt, die jeder einzelner Bewohner immer wieder neu erfindet und gestaltet, eine Welt voller Produzenten, die sich selbst produzieren und zugleich die Selbstproduktion anderer Produzenten rezipieren, konsumieren und reflektieren. Es ist eine Welt ohne verbindliche Norm, ohne Kanon und daher ohne Legitimitätshierarchie. Diese Welt hat viele Gesichter und viele Namen; wie eingangs erwähnt, nennen wir sie in diesem Blogmagazin Perisphere. Für diese vom Anpassungsdruck, von der Marktlogik, von der politischen Borniertheit, von der Geschmacksnivellierung oder gar von der Selbstzensur stetig bedrohte Welt setzen wir uns im Rahmen unserer bescheidenen Möglichkeiten ein. Nicht weil wir eine neurotische Fixierung auf Andersartigkeit hätten, sondern weil wir in diese Welt, die auch very campy ist, ein großes Glück für die kulturelle Vitalität einer Gemeinschaft sehen.

Jack Smith: Untitled (ca. 1958-63); Copyright Estate of Jack Smith
Courtesy Gladstone Gallery
Jack Smith: Untitled (ca. 1958-63); Copyright Estate of Jack Smith
Courtesy Gladstone Gallery

Denn nur hier können die seltsamen, exotischen und empfindlichen Blüten – strange fruits – gedeihen, die in der anderen Welt verkümmern. Nur in diesem Biotop kommen sie zur Reife und bereichern die gesamte Landschaft mit ihren ungewöhnlichen Düften und Farben. Nur hier finden die Parias, Ex-zentriker und Idioten Raum für den Ausdruck ihrer einmaligen Persönlichkeit. Diesen Raum zu schützen heißt die kulturelle Artenvielfalt schützen. Wir rufen die UNESCO an und schicken sie in die Perisphere! Wer den Kampf gegen Uniformität und Gleichmäßigkeit führt ist bereits in der Perisphere.

Jack Smith

Das leidenschaftliche Engagement für die Peripherie, das wir in diesem Blogmagazin in der Form einer gesteigerten Aufmerksamkeit für Randzonen der Kultur treiben, darf jedoch nicht zu einem Reflex, zu einem unreflektierten Automatismus verkommen. Zunächst weil es die Gefahr birgt, eine blinde Akzeptanz für alle Minderheiten zu entwickeln. Auch Nationalisten, Trader, Zuhälter, religiöse Fundamentalisten, Sadisten oder Pädophile bilden Subkulturen, Nischen und Biotope. Es kann nicht ausreichen, am Rande des Hauptbetriebes zu agieren und irgendwie alternativ zu sein, um zur schützenwerten Spezies erklärt zu werden. Und genau da liegt das Problem. Rainer Metzger hat es in seiner Relektüre des Buches von Terry Eagleton (Was ist Kultur?, München 2001) so formuliert: „Nationalisten sind ebenso in der Minderheit wie Lesben: Warum aber, lässt man den Minderheitenstatus als Kriterium denn gelten, firmiert das eine als Qualität, während das andere verpönt ist?“ Es müssten also gesellschaftliche Übereinkünfte her, um die Spreu vom Weizen zu trennen und „ungute“ Gruppen aus der Bildfläche zu tilgen. Klingt das gut? Wir sind keine Richter – auch wenn wir bestimmte Entwicklungen definitiv nicht gutheißen wollen.

Ein anderes, vielleicht weniger heftiges jedoch genauso unlösbares Problem betrifft die Aneignung der Peripherie durch kommerzielle Branchen. Zu Zeiten des Guerilla Marketing und Streetbranding wird die Nische als Chance auf Profilierung und Eroberung von neuen Absatzmärkten gewittert. Für die creative industries ist die Andersartigkeit ein unique selling proposal mit Distinktionsmerkmal, während die eben genannten Parias und Rebellen eine wunderbare Inspirationsquelle bilden. Gesellschaftskritische Konterformisten, die von einem divergent thinking gekennzeichnet sind und, wie die Dandys des 19. Jahrhunderts, ihr Leben als Gesamtkunstwerk feiern, werden zu Originalitätsmodellen erklärt. Manche ihrer Attribute und Attitüden fließen unvermittelt in das kapitalistische Verwertungssystem und versorgen ihn damit widerwillig. Luc Boltanski und Eve Chiapello haben bereits vor 15 Jahren diese Dynamik der Anpassung und Aneignung analysiert und gezeigt, wie die Kritik des Kapitalismus zum Motor des Kapitalismus umgewandelt wird (s. Der neue Geist des Kapitalismus).

 

Jack Smith: Flaming Creatures (1963-64)

Das Beispiel von Jack Smith spricht da Bände: Der schwule Bohemien lebte konsequent seine Andersartigkeit aus und blieb bis zu seinem frühzeitig Tod 1989 ein Prototyp des verkörperten kulturellen Widerstandes gegen Gleichförmigkeit und Mainstream – eine Anomalie im System. Die extravagante Lebensweise des Transvestiten wurde zunächst von gut informierten Underground-Scouts wie Andy Warhol „entdeckt“ und später gewinnbringend in die populäre Kultur eingeschleust. Die angebliche Paranoia des flamboyant Smith lässt sich dadurch erklären, dass seine Strategie der totalen Ästhetisierung zum oberflächigen Vorbild von Lou Reed, David Bowie (Phase Ziggy Stardust), Kiss oder Brian Eno fungierte, und erfolgreiche Klamauken wie The Rocky Horror Picture Show beeinflusste. Unter Umständen hätte sich Smith wenig über die – wie gesagt: sehr empfehlenswerte – Ausstellung bei Julia Stoschek gefreut und dort eine erneute Aneignung seiner Einzigartigkeit unerträglich empfunden.